Erdogan bleibt gefährlich

Der machthungrige türkische Präsident hat bei den Parlamentswahlen die berühmte schallende Ohrfeige erhalten. Mein Kollege Özcan Canel Altintop erklärt, wie er am Ende doch noch als Sieger aus der Sache hervorgehen könnte: So kann Erdogan die Niederlage in einen Sieg verwandeln.

Nach der Türkei-Wahl

So kann Erdogan die Niederlage in einen Sieg umwandeln

08.06.2015, 11:06 Uhr | Von Özkan Canel Altintop, t-online.de

Türkei-Wahl: Wie Erdogan doch noch zum Sieger werden könnte. Wahlniederlage? Egal! Denn der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan kann Niederlagen in Siege verwandeln. (Quelle: Reuters)

Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat meistens alles im Griff. (Quelle: Reuters)

Das, was Recep Tayyip Erdogan mit aller Macht verhindern wollte, ist eingetreten. Obwohl der türkische Staatspräsident gar nicht selbst zur Wahl stand, war es doch eine Abstimmung über ihn. Und zum ersten Mal seit den Parlamentswahlen im Jahr 2002 sind die meisten Türken ihm nicht mehr blind gefolgt. Seine AKP hat nach vorläufigen Ergebnissen mit 40,8 Prozent der Stimmen die Wahl zwar für sich entschieden, die angestrebte absolute Mehrheit hat die Regierungspartei aber verfehlt.

Damit kann Erdogan seinen Traum von einer Präsidialrepublik begraben – vorerst jedenfalls. Allerdings hat der machthungrige Staatspräsident schon oft gezeigt, dass er Niederlagen in Siege verwandeln kann. Eine Analyse:

Die AKP erhält nach dem vorläufigen Endergebnis 258 Parlamentssitze. Die sozialdemokratische CHP kann wohl mit 132 Mandaten rechnen (25,2 Prozent). Die rechtsnationale MHP kommt auf 81 Sitze (16,5 Prozent). Die linksliberale Kurdenpartei HDP schafft den Sprung über die Zehn-Prozent-Hürde und darf 79 Stühle besetzen (12,8 Prozent). Damit schaffen vier Parteien den Sprung ins Parlament. Die Regierungsmehrheit liegt bei 276 Sitzen. Wie geht es weiter?

Option 1:

Die islamisch-konservative Erdogan-Partei erhält den Regierungsauftrag und schmiedet mit der MHP eine Koalition. Dieses Szenario ist möglich. Ideologisch sind die beiden Parteien nämlich gar nicht so unterschiedlich. In der Vergangenheit hat die MHP umstrittene Gesetze wie die Aufhebung des Kopftuchverbots, Einschränkungen bei Alkoholausschank und die Öffnung der Religionsschulen immer mitgetragen. Ob die Rechtsnationalisten allerdings einer Verfassungsänderung zugunsten von Erdogan zustimmen, bleibt abzuwarten. Denn in ihrem Wahlprogramm besteht die MHP auf einer parlamentarischen Demokratie. Allerdings hat die AKP einen Trumpf in der Hand: Verzichtet sie auf eine angestrebte Lösung der Kurdenfrage, könnten die türkischen Nationalisten doch noch einknicken und auf die AKP-Seite schwenken.

Option 2:

Die AKP geht mit der kurdischen HDP zusammen. Auch diese Option ist möglich. Obwohl ideologisch unterschiedlich (die HDP ist säkular und linksliberal), steht für beide Parteien viel auf dem Spiel. Erdogan bekommt seine Verfassungsänderung und im Gegenzug bekommt der inhaftierte PKK- und Kurdenführer Abdullah Öcalan Hafterleichterungen – oder wird am Ende sogar freigelassen. Allerdings versucht die HDP sich als Partei auch den Türken zu öffnen. Im Wahlkampf hatte Parteichef Selahattin Demirtas einer möglichen Koalition mit der AKP, teils mit scharfer Rhetorik, stets eine Absage erteilt. Die Partei würde in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, sollte sie ihr kurdische Identität aufgeben.

Option 3:

Die AKP kann die Regierung nicht alleine bilden. Dass die drei anderen Parteien, die MHP, die HDP und die CHP, ohne die AKP eine Koalition eingehen, wäre so, als würden sich in Deutschland NPD, Linke und SPD zusammentun. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den Parteien, so dass dies absolut unwahrscheinlich ist.

Option 4:

Eine Große Koalition zwischen AKP und CHP. Doch diese beiden Parteien stehen sich wie Erzfeinde gegenüber. Außerdem haben beide vor den Wahlen einer solchen Konstellation eine Absage erteilt – und müssen ihre Wähler nun auch entsprechend bedienen. Säkular und islamisch-konservativ in der Türkei? Nicht wahrscheinlich.

Erdogan kann doch noch gewinnen

Und deswegen kommt Erdogan wieder ins Spiel. Scheiden nämlich alle vier genannten Optionen aus, kann er als Staatspräsident innerhalb von 45 Tagen Neuwahlen ausrufen. Der neue Termin würde in die türkischen Sommerferien fallen. Nur die konservativen Wähler ließen sich erneut zur Wahl motivieren, denn die gut gebildeten und ökonomisch bessergestellten Türken machen in Sommer lieber Urlaub. Das war schon bei der Wahl zum Staatspräsidenten im August 2014 der Fall. Die Wahlbeteiligung war für türkische Verhältnisse mit 74 Prozent sehr niedrig. Die Türkeikennt keine Briefwahl – und genau das ist Erdogans Chance.

Fazit: Recep Tayyip Erdogan könnte am Ende wieder als Sieger hervorgehen. Er wäre Staatschef in einer Präsidialrepublik – und ohne verfassungsmäßige Kontrollgremien hätte eine Machtfülle beinahe wie früher der Sultan.