Nach dem Irak und Syrien will der Islamische Staat nun auch in den Libanon eindringen. An vorderster Front liegt dabei die Christenstadt Ras Baalbek. Sie überlebt nur Dank der Schiitenmiliz Hisbollah.
Von Christian Kreutzer
Hoch über der Stadt hat die Gemeinde Ras Baalbek ein zehn Meter hohes Kreuz aus Stahl aufgestellt. Einsam steht es auf einem Hügel nahe der syrischen Grenze – wie eine Warnung an die Feinde in den Bergen.
Gewehrfeuer hallt von dort oben herab. Raif Khoury* hebt sein Fernglas an die Augen: Nichts zu sehen. Aus dem Tal antwortet mehrmals schwere Artillerie. Dann heult eine zeitlang nur der Wind.
Khoury stapft über Geröll zu einem kleinen Vorsprung und zeigt auf einen nahe gelegenen Hügel: „Da’isch“ – der „Islamische Staat“ (IS) – hat ihn vergangene Woche für eine Nacht eingenommen. Von dort aus hätten sie Ras Baalbek direkt unter Feuer nehmen können. Tags darauf hat die schiitische Hisbollah-Miliz sie vertrieben. Doch die IS-Kämpfer bleiben in der Nähe: „Nachts sehen wir auf den Bergen ihre Lagerfeuer“, sagt Khoury.
Raif steigt in seinen SUV und fährt zurück, hinunter nach Ras Baalbek. Auf seinem Weg passiert der 40-Jährige zwei Kirchen und einen mit Kreuzen bestandenen Friedhof. Aus dem Schaufenster einer Bäckerei grüßt eine vergessene Weihnachtsmann-Puppe.
Khoury führt die Christenmiliz der libanesischen Kleinstadt. Sie liegt im Nordosten des Libanon, am Rand der Bekaa-Ebene – dort, wo der Anti-Libanon in Richtung Syrien ansteigt. Bis zur syrischen Grenze sind es von hier nur noch wenige Kilometer.
Tag und Nacht patrouillieren er und seine Männer durch die Straßen der 15.000-Einwohner-Gemeinde und fahren die umliegenden Hügel ab. Sie sind ständig in Alarmbereitschaft: Immer wieder stoßen die sunnitischen Kämpfer des IS und ihre Verbündeten nachts von den Bergen herab, um sein Dorf zu überrennen.
Der IS hat schon je ein Drittel des Iraks und Syriens erobert. In Libyen ist er ebenfalls auf dem Vormarsch. Jetzt, so befürchten viele, wollen seine Kämpfer auch im Libanon Fuß fassen. Die libanesische Grenzstadt Arsal – in Sichtweite von Ras Baalbek gelegen – ist bereits fest in ihrer Hand.
„Ein Sturm rast auf den Libanon zu“, hat Hassan Nasrallah, der Chef der mächtigen Hisbollah, gerade in einer Fernsehansprache gewarnt.
Über Ras Baalbek und seinen Nachbargemeinden braut sich dieser Sturm zusammen. Nachts schicken die Terroristen ihre Vorboten: Wenn sich die Dunkelheit über die steppenartigen Hügel senkt, regnen alle paar Tage ungezielt Mörser-Granaten und Raketen von dem Bergmassiv herab. Sie gelten Ras Baalbek und anderen Dörfern in der Ebene. Vor allem schiitische und christliche Weiler schmiegen sich hier halbmondförmig an die Hügel um Arsal.
Ras Baalbek ganz im Norden dieses Halbmonds gelegen, bildet dabei die äußerste Bastion des Christentums in diesem Teil des Landes.
Hier leben kaum Moslems oder Drusen. Die meisten Bewohner sind Mitglieder der melkitisch griechisch-katholischen Kirche – eine der kleineren von insgesamt acht christlichen Religionsgemeinschaften im Libanon.
Oben auf den Bergen – wo nachts die Geschosse herkommen – sieht man mit bloßem Auge die ersten Häuserreihen des umkämpften Arsal. Ein Ring aus Armee-Stellungen umgibt die Sunniten-Stadt. Im Innern herrscht eine Koalition aus Islamischen Staat und dem Al-Kaida-Ableger Jabhat Al-Nusra. Hinein traut sich die Armee nicht mehr.
Arsal ist überfüllt mit Tausenden verzweifelten Flüchtlingen und versprengten Rebellen aus Syrien die sich nach und nach IS oder Al-Kaida anschließen, sagen Augenzeugen. Vergangenes Jahr hatten die sunnitischen Extremisten die Stadt erobert. Jetzt kontrollieren sie die Gegend – und halten seit damals 22 libanesische Soldaten als Geiseln.
Der IS ziehe dort immer mehr Kämpfer zusammen, hat der libanesische Generalstab gerade bekannt gegeben. 3000 Kämpfer des IS sollen dort für Einsäze bereit stehen. Angeblich wollen sie jetzt weiter in den Libanon vordringen.
Auch in den schiitischen Nachbardörfern von Ras Baalbek wird von wöchentlichen Sturmangriffen berichtet. Immer wieder versuchen die Extremisten, die grenznahen Siedlungen zu überrennen.
Fragt man, wer sie zurückschlägt, erhält man immer die gleiche Antwort: die Hisbollah. Kommen die Terroristen, dann ruft auch Raif Khoury die Schiiten-Miliz. Die treibt die sunnitischen Gegner zurück. Könnte er ohne sie überleben? „Nein“, sagt Raif knapp. „Ohne die Hisbollah, wären sie schon lange hier unten.“
Die libanesische Armee ist ebenfalls in der Nähe und versucht immer wieder Vorstöße ins Gebiet des IS. Sie gilt im Libanon als moralisch grundsolide. Allerdings, so heißt es im zweiten Satz immer, sei sie schwach, schlecht ausgerüstet, eher Beute als Jäger. Dutzende ihrer Soldaten sind bereits in Hinterhalten des IS umgekommen.
Jetzt wartet sie auf vier Milliarden Dollar, die Saudi-Arabien im April überweisen will. Amerikanische und französische Kampfhubschrauber und Artillerie-Waffen sollen davon gekauft werden.
Mit der Hisbollah sieht es anders aus: Sie ist schon bestens bewaffnet und schreckt offenbar vor keinem Einsatz zurück. Auf der syrischen Seite der Grenze bewahrt sie mit Männern und Waffen Diktator Baschar al-Assad vor dem Sturz – auf Befehl ihres Geldgebers Iran und unter großen Opfern: Überall in der Bekaa-Ebene hängen die Bilder der „Schahids“, der Märtyrer – gleich neben Standbildern des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khamenei. Bis zu 1000 Mann soll die Hisbollah in Syrien bereits verloren haben.
Doch sie und nicht die Armee gilt im Libanon als die wahre Beschützerin von Schiiten, Christen, Drusen und selbst Sunniten – ja des ganzen Libanon – vor den Halsabschneidern des IS.
Die Geschütze, die man aus der Ebene feuern hört, gehören angeblich ebenfalls ihr – Geschenke der Regierung der Islamischen Republik Iran, heißt es – dem Großen Bruder der Hisbollah. Der schiitische Iran stattet seine Glaubensbrüder im Libanon mit Geschützen und Raketen aus, von denen die libanesische Armee nur träumen kann. Das hat auch Israel im Krieg 2006 zu spüren bekommen: Nicht einmal dessen mächtige Armee konnte die Hisbollah besiegen.
Im Libanon stehen Armee und Hisbollah offensichtlich auf gutem Fuß: Per Handschlag begrüßen sich Soldaten und Milizionäre in dem Schiiten-Dorf Labweh – zwei Kilometer südlich von Ras Baalbek und selbst kurz vor der Frontlinie gelegen. Die schwarzen SUVs ohne Nummernschilder, mit denen die Hisbollah-Chefs durch die Stadt und die Bekaa-Ebene rasen, passieren alle Armee-Checkpoints ohne Kontrolle.
Nicht nur hier an der syrischen Grenze sind die Christen froh über die Hilfe der mächtigen Schiiten-Miliz. Laut einer Umfrage vom Oktober glauben über zwei Drittel aller libanesischen Christen, dass nur die Hisbollah sie auf Dauer vor dem IS beschützen kann.
Dass es nur zwei Drittel sind, hält Lokman Slim sogar für stark untertrieben. Der Journalist und Menschenrechtler aus einer schiitischen Familie ist selbst ein scharfer Kritiker der nahezu unangreifbaren Macht der Hisbollah. Er glaubt aber, mittlerweile dürfe man von 80 bis 90 Prozent der Christen ausgehen, die auf Seiten der Hisbollah seien.
Christen stellen im Libanon vermutlich rund 45 Prozent der Bevölkerung – genau weiß es keiner, da die letzte Volkszählung Jahrzehnte her ist.
Mit unterdrückter Wut erklärt Slim, warum sie jetzt der Schiitenmiliz folgen: „Die Hisbollah betreibt seit Jahren eine massive Angst-Propaganda zugunsten Assads und um ihren Syrien-Einsatz zu rechtfertigen, den der Iran ihr befohlen hat.“ Die syrischen Revolutionäre, die ihn stürzen wollten, habe sie schon lange vor dem Auftauchen von Al-Kaida und IS als Terroristen verunglimpft.
Die Christen würden sich blind ihrem Schutz anvertrauen – aus Angst vor dem IS, aus Angst vor dessen sunnitischen Glaubensbrüdern, die man im Bürgerkrieg 1975 bis 1990 brutal bekämpft hat, aus Angst vor einem weiteren Niedergang der einst mächtigen christlichen Gemeinschaft, aus Angst im Allgemeinen.
Dabei erhält die Hisbollah derzeit von westlichen Beobachtern verhaltenes Lob: Sie drifte weg von der Idee vom Gottesstaat, weg vom Terrorismus. Achim Vogt, Leiter der Beiruter Friedrich-Ebert-Stiftung, hält die Mitglieder der „Partei Gottes“, für Pragmatiker. Letztlich sei ihre Agenda nicht mehr religiös sondern nationalistisch-libanesisch. Ganz bewusst gehe sie auf andere Religionsgruppen zu, stelle Abgeordnete im Parlament und Minister in den Regierungen.
Selbst der amerikanische „CTC-Sentinel“, Monatsmagazin der Westpoint-Akademie – einer US-Kaderschmiede für den Offiziers-Nachwuchs – ließ im Dezember den Syrien-Experten Chris Zambelis zu Wort kommen. Der zitierte zaghaft aber ausführlich Wissenschaftler, die die in den USA und Israel als Terrorgruppe angesehene Hisbollah zu einer Organisation im Wandel erklärten – hin zu einer politischen Partei. Schon jetzt wird im Libanon zwischen der Hisbollah als Partei und der gleichnamigen Miliz unterschieden – wobei sich die Miliz bislang jeder staatlichen Kontrolle entzieht.
Unübersehbar ist zudem die Achillesferse der schiitisch-christlichen Allianz, der auch viele Drusen angehören: Die libanesischen Sunniten, rund 27 Prozent der Bevölkerung, fühlen sich zurückgesetzt, des Extremismus verdächtigt und von einer Koalition aus Armee, Hisbollah, Christen und Drusen an den Rand gedrängt. Sunnitische Hetzprediger erringen immer mehr Einfluss. In den Sunniten-Städten Tripolis und Sidon hat es bereits Kämpfe gegeben. Jetzt kontrolliert die Armee die beiden Städte.
Zieht ein neuer Bürgerkrieg herauf? „Wir erleben hier eine sehr große Widerstandskraft gegen den Krieg im Innern“, wiegelt Vogt ab. „Alle Führer, inklusive der Hisbollah und der Sunniten, treffen sich wieder und wieder und werben für den Frieden.“ 95 Prozent der Bevölkerung folgten ihnen.
Fünf Prozent allerdings gelten als „Spoiler“ – als Spielverderber. Was sie bewirken können? „Womöglich nicht viel“, sagt Vogt. „Womöglich alles.“
Einige wenige hier haben indes überhaupt keine Angst vor der Zukunft: Ein paar hundert Meter vor der umkämpften Grenzstadt Arsal überzieht feiner Pulverschnee die steppenartigen Hügel. Hier oben, in Sturm und Kälte harren Hisbollah-Kämpfer Tag und Nacht in gut getarnten Stellungen aus, um den Bewegungsspielraum von IS und Al-Nusrah einzuschränken.
Deren Kämpfer sind nah: Nur rund ein Kilometer trennt die Hisbollah-Stellungen von den ersten Häusern von Arsal. Eine Moschee ist zu sehen und ein paar mehrgeschossige Gebäude.
Der Hisbollah-Kommandeur einer der schiitischen Talgemeinden will seinen Namen nicht veröffentlicht sehen, doch er strotzt vor Selbstbewusstsein. Er zeigt auf ein kleines Tal zwischen den Fronten: Von dort versuchten IS und Al-Nusra immer wieder vergeblich, nachts mit hunderten von Männern in die Bekaa-Ebene, die 1000 Meter tiefer liegt, vorzudringen. „Die lassen in diesem Tal viel Blut“, sagt der Kommandeur.
Er blickt kühl in Richtung der Häuser: „Ich wünschte, Armee und Regierung würde uns nach Arsal lassen – wir hätten die Stadt im Handumdrehen gesäubert.“
*Name geändert
(Anm.: Die Geschichte erschien unter anderem in der Ulmer „Südwest-Presse“.)