
Diese Gebiete kontrollieren der IS (schwarz schraffiert), bzw. verschiedene Al-Kaida-Ableger (weiß schraffiert). (Quelle: stepmap / t-online.de)
Die Welt zittert vor dem Islamischen Staat. Al-Kaida scheint dagegen tot zu sein. So tot wie ihr Gründer Osama bin Laden, den ein US-Spezialkommando vor fünf Jahren erschossen hat. Jetzt aber wendet sich das Blatt.
Es gibt Fragen, die kann Asiem el Difraoui gar nicht leiden. Zum Beispiel diese: „Wer ist jetzt gerade mächtiger – der Islamische Staat oder Al-Kaida?“ „Diese Diskussion irritiert mich“, sagt der deutsch-ägyptische Politologe und Experte für Dschihadismus. „Es ist nur kurzfristig wichtig zu wissen, wer mächtiger ist. Langfristig können beide wiedererstarken. Al-Kaida wurde ja beispielsweise schon dutzende Male totgesagt.“
Andere machen diesen Unterschied sehr wohl – aus gutem Grund: Der Islamische Staat (IS), der für die November-Anschläge von Paris und zuletzt in Brüssel verantwortlich ist, gilt als schwer angeschlagenes Raubtier. Fast ein Viertel seiner Staatsfläche ist in den vergangenen zwölf Monaten verloren gegangen, die Zahl ausländischer Rekruten, die ihm zuströmen, schrumpfte laut Pentagon um 90 Prozent.
„Diese Art von Krieg ist nicht zu gewinnen“
Den Rest erledigt die Terror-Truppe selbst, in dem sie in ihrer sektenartigen Kompromisslosigkeit Krieg gegen wirklich jeden führt: Nicht nur der Westen, auch schiitische und sufistische Muslime sowie nicht-islamistische Regime im Nahen Osten stehen auf ihrer Abschussliste. Auch andere Islamisten erklären sie für vogelfrei und dem Tod geweiht bis hin zu Al-Kaida, den vergleichsweise gemäßigten Moslembrüdern und einzelnen salafistischen Predigern im Westen, die gegen Terrorismus sind, wie beispielsweise den Kölner Pierre Vogel,
„Diese Art von Krieg ist nicht zu gewinnen“, stellt der Terrorismus-Experte Guido Steinberg von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) im Gespräch mit t-online.de fest.
Bereits im Februar überraschte der frühere Bin-Laden-Vertaute Noman Benotman – ein libyscher Ex-Terrorist, der heute die anti-dschihadistische Londoner Quilliam-Stiftung leitet – mit folgender Aussage: „Der IS geht seinem Ende entgegen. Al-Kaida dagegen wird sich durchsetzen und alle ‚überraschen‘.“ (Hier zum t-online.de-Interview mit Benotman: Wie Terroristen ticken, Sept. 2011)
Was wie eine launige Besprechung der Terror-Charts klingt, hat einen ernsten Hintergrund: Al-Kaida, glauben mittlerweile viele Experten, hat auf die Dauer einfach die bessere Strategie. Getreu dem Motto ihres toten Gründers Bin Laden greift „die Basis“, so die deutsche Übersetzung von Al-Kaida, keine Schiiten an, schont anders denkende sunnitische Muslime und respektiert vor allem lokale Sitten und Gebräuche.
An vielen Fronten stärker als der IS
In Syrien beispielsweise, wo Al-Kaida unter dem lokalen Namen „Jabhat al-Nusra“ (Front der Helfer) firmiert, geht die Gruppe mehr und mehr Bündnisse mit anderen Islamisten ein – auch mit denen, die sonst eigentlich nicht auf ihrer Linie liegen – und erschließt sich damit Zugang zu verschiedensten Oppositionsgruppen und damit zu noch mehr Einfluss.
Zudem sind ihre Mitglieder vor allem Syrer, im Gegensatz zum IS, der dort eher Iraker und Freiwillige aus rund hundert Ländern versammelt hat. Den meisten Syrern erscheinen sie daher als Besatzungsmacht von außerhalb.
Al-Kaida dagegen hält sich in jeder Hinsicht zurück, verschmilzt geradezu mit den anderen Gruppen. Was ihr dort zugute kommt, ist die Tatsache, dass vor allem USA und Kurden ihre Angriffe fast ausschließlich auf den Islamischen Staat richten. Al-Nusrah scheint dagegen fast in Vergessenheit geraten zu sein.
„Ähnlich ist die Strategie in der Sahel-Zone“, sagt Steinberg. Dort, in der Südhälfte der Sahara, treibt der Al-Kaida-Ableger „Al-Kaida im Islamischen Maghreb“ (AQMI) sein Unwesen – jedoch immer weniger auf Kosten der lokalen Bevölkerung. „Sie sind dort stärker als der IS“, sagt Steinberg. „Mit der klügeren Strategie.“
In Afghanistan, wo Al-Kaida lange praktisch als ausgerottet galt, gestand ein Pentagon-General kürzlich gegenüber dem „Long War Journal“ ein, dass man sich getäuscht habe: Al-Kaida sei dort nach wie vor aktiv und habe mehrere hundert Mann unter ihrem Kommando.
Angriff auf „Charlie Hebdo“
Besonders mächtig ist Al-Kaida im Jemen, wo sie vor allem mit Hilfe von lokalen Stammesführern herrscht. „Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel“ heißt die Organisation hier und sie kämpft nicht nur mit militärischen Mitteln gegen die Staatsmacht und ihre Verbündeten.
Auch die Attentäter, die im Januar die Anschläge unter anderem auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ verübten, waren von der jemenitischen Al-Kaida geschickt worden. Ein Angriff, der sich allerdings kaum so schnell wiederholen dürfte: „Al-Kaida versucht, Fehler von früher zu korrigieren, wie zum Beispiel groß angelegte Attentate, die letztlich zur Selbstzerstörung führen“, prognostiziert Steinberg.
Im Namen des Halsabschneiders
Dabei sind die Al-Kaida-Ableger kaum weniger brutal, foltern und ermorden ihre Gegner, verfolgen Christen und hassen den Westen. Doch sie gehen diskreter vor und treten insgesamt gemäßigter auf. Während der IS jeden brutalen Mord stolz auf Twitter postet, hört und sieht man von Al-Nusra kaum etwas.
Religiöse Forderungen wie die Vollverschleierung der Frauen, werden nicht im Handstreich und unter Androhung der Todesstrafe eingeführt. Vielmehr schickt Al-Kaida ortsansässige Mitglieder aus, die versuchen, die Leute im Gespräch zu überzeugen, so die US-Expertin Jennifer Scafarella, gegenüber der US-Zeitung „Christian Science Monitor“.
„Der IS dagegen ist immer noch Sarqawi“, sagt Steinberg. Abu Musab al-Sarqawi, war der erste Chef der irakischen Al-Kaida, aus der der IS hervorgegangen ist. Er war es, der damit anfing, Menschen vor laufender Kamera den Kopf abzuschneiden und der den Bürgerkrieg gegen die Schiiten lostrat.
So lange, bis er von Osama bin Laden dafür getadelt wurde. 2006 starb er bei einem US-Luftschlag, seine Methoden überlebten ihn jedoch. 2014 schloss Bin-Laden-Nachfolger Aiman al-Sawahiri seine Organisation aus dem Netzwerk aus.
Iran sieht „neuen Bin Laden“ aufsteigen
Vergangene Woche zitierte die arabische Online-Zeitschrift „Al-Monitor“ einen iranischen Militärbeobachter auf Seiten des syrischen Diktators Baschar al-Assad mit der geheimnisvollen Warnung: „Die wahre Gefahr für die USA und den Westen ist nicht der IS, sondern Al-Nusra.“
Er sehe dort sogar einen „neuen Bin Laden“: Den charismatischen saudischen Prediger Abdullah al-Muhaysini. Der relativ junge Geistliche hatte sich in den vergangenen Monaten vom IS abgewandt und gilt nun als geistiger Führer von Al-Nusra und dessen Anti-IS-Koalition. Als Terror-Fürst im Sinne Bin Ladens hat er bisher noch nicht von sich reden gemacht.
Politologe Asiem El-Difraoui sieht bei all dem nur unwesentliche Unterschiede. „Klar, Al-Kaida lehnt die ostentative Ultra-Brutalität des IS ab. Aber sonst sind sie genauso gefährlich. Wir müssen die verschiedenen dschihadistischen Bewegungen alle langfristig bekämpfen, sowohl ideologisch als auch militärisch. Und wir müssen ihnen den sozio-ökonomischen Nährboden entziehen. Sonst tauchen immer wieder neue auf, egal ob sie nun Al-Kaida, IS, Boko Haram oder Al-Shabaab heißen.“
(Anm.: Der Text erschien zuerst am 02.05.2016 bei t-online.de.)