„Die USA stecken hinter 9/11“ – woher kommen solche Verschwörungstheorien?

20150330_204531Haben die USA ISIS gegründet? Steckt die US-Regierung hinter 9/11? Solche und ähnliche Verschwörungstheorien kursieren in der arabischen Welt. Der Journalist und Politikwissenschaftler Rami George Khoury – Sohn christlicher Palästinenser – hat mir im Interview erklärt, was dahinter steckt. Das Interview erschien zunächst in der „taz“ (siehe Bild). 

Professor Khoury, im Nahen Osten sind eine Menge Verschwörungstheorien im Umlauf. Welche sind die Bemerkenswertesten?

Rami Khoury: Verschwörungstheorien im Nahen Osten machen meist fremde Mächte für irgendwelche Ereignisse verantwortlich. Zurzeit hören Sie sehr oft, Israelis und Amerikaner hätten ISIS gegründet. Eine andere lautet, CIA und Israelis steckten hinter den 9/11-Anschlägen. Die Leute haben dafür natürlich keine Beweise. Das ist ein bisschen wie politisches Entertainment.

Woher kommen solche Ideen?

Ich weiß ja nicht, wie viele Leute wirklich daran glauben. Ich höre das hin und wieder, dass Amerikaner, Israelis oder Europäer hinter allem möglichen stecken. Ich denke der Hauptgrund besteht darin, dass es in der arabischen Welt keine Freiheit gibt – keine Redefreiheit, keine Pressefreiheit, in den Nachrichten wird nicht die Wahrheit erzählt. Wenn also etwas passiert, legen sich die Leute mithilfe ihrer Fantasie ihre eigenen Gründe zurecht, warum dies oder das passiert. Es gibt noch eine zweite Ebene: In den vergangenen 100 Jahren haben die Araber eine Menge Niederlagen eingesteckt – zum Beispiel gegen Israel oder Amerika. Und oftmals haben ausländische Mächte tatsächlich hinter negativen Ereignissen gesteckt: Denken Sie nur an daran, wie CIA und der britische MI6 im Jahr 1953 den beliebten iranischen Premierminister Mohammad Mossadegh gestürzt haben.

Dennoch: Warum stehen bis heute immer die ausländischen Regierungen unter Verdacht – und nicht die eigenen Unterdrücker?

In ihrer Umgebung können die Menschen meist nicht ihr eigenes Land kritisieren, weil sie das direkt ins Gefängnis oder in eine Folterkammer bringt. Die Menschen sind in ihren eigenen Gesellschaften machtlos. Sie dürfen politisch nicht mitreden, niemanden zur Verantwortung ziehen, werden nicht korrekt  informiert. So fühlen sie sich hilflos und den Wünschen Fremder ausgesetzt. Ausländer, wie Amerikaner, Briten, Türken, Iraner oder Israelis zu kritisieren, ist da einfach leichter.

Wie reagieren Sie als Hochschullehrer darauf, wenn Ihnen solche Theorien begegnen?

Das einzige was man tun kann, ist, zu sagen: Ziegen Sie mir den Beweis. Sie glauben, Israels steckt hinter diesem und jenem? Ich kann es nicht ausschließen, aber beweisen Sie das erst mal, bevor Sie es behaupten. Es zu glauben, reicht nicht.

Wie reagieren Ihre Studenten auf diesen Hinweis?

Sie haben natürlich keine Beweise. Meist sagen sie dann: „Das weiß doch jeder.“ So eine Antwort ist schlicht der Aufschrei einer schwachen, unwissenden, verletzlichen und hilflosen Person, die keine Kontrolle über ihr eigenes Schicksal hat. Dieser Zustand gibt ihnen die Möglichkeit zu fantasieren. Er befreit sie übrigens gleichzeitig davon, die Verantwortung für das übernehmen zu müssen, was in ihrer eigenen Gesellschaft geschieht.

r.khourySie sind unter anderem Amerikaner. Begegnen Ihnen in den USA auch Verschwörungstheorien?

Ich bin sicher, es gibt welche. Überall auf der Welt denken sich Menschen bizarre Gründe für Dinge aus, die sie nicht erklären können. Aber mir sind bis jetzt keine begegnet.

In der Sozialpsychologie, werden Verschwörungstheorien mit dem Zustand einer Paranoia in Verbindung gebracht. Ist die arabische Welt paranoid?

Alles was ich sagen kann: Das Gefühl, Opfer von Verschwörungen zu sein, kommt ja nicht aus dem Nichts. Es kommt von einem geschichtlichen Erbe, bei dem israelische oder amerikanische Regierungsorganisationen sich Dinge gegenüber arabischen Ländern oder gegenüber dem Iran herausgenommen haben. Das sind nachgewiesene Tatsachen. Die Verschwörungstheorien beruhen also zum Teil schon auf historischen Erfahrungen er vergangenen 60, 70 Jahre.

Können Sie ein paar Beispiele nennen?

Viele Dinge sind im Laufe der Jahre passiert, die vor allem auf den Wünschen fremder Mächte beruhen. Das beginnt schon mit der Schaffung vieler arabischer Staaten auf Basis des Sykes-Picot-Abkommens. Dann gibt es dokumentierte Fälle von Einmischungen fremder Geheimdienste, wie beim bereits genannten Sturz von Mossadegh, regelmäßigen Zahlungen an das jordanische Königshaus, oder auch den Sturz von Saddam Hussein oder die Teilnahme am Krieg in Libyen, um Gaddafi zu stürzen, um nur einige zu nennen.

Nun gibt es ja nicht nur Verschwörungstheorien, sondern auch echte Verschwörungen: Zum Beispiel die Watergate-Verschwörung der Nixon-Regierung. Gibt es einfache Kriterien, die einen von den anderen zu unterscheiden?

Die Frage ist auch hier immer: Gibt es Beweise oder nicht? Im Falle von Watergate können wir nachweisen, dass hier ein Verbrechen verdeckt werden sollte. Dieses Verbrechen wurde aufgedeckt und die Fakten liegen auf dem Tisch. Anders geht es nicht.

Was müsste passieren, damit solche Verschwörungstheorien einem aufgeklärteren und mehr auf Fakten bezogenen Ansatz Platz machen?

Die Menschen müssten mehr Macht bekommen – und mehr Verantwortung. Hätten sie mehr Macht, als Bürger eines demokratischen Landes, eines Rechtsstaates, in dem sie erleben, dass sie einfach als Bürger vor Gericht ziehen können und dort auch Recht bekommen, wenn sie im Recht sind, wenn es außerdem Mechanismen gäbe, denen gegenüber auch Regierungen zur Verantwortung gezogen werden können – wenn alle diese Dinge sich langsam ändern, und die Menschen das Gefühl bekommen, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu haben, dann würden diese Verschwörungsvorstellungen zurückgehen. Dann können die Menschen die Dinge selbst in die Hand nehmen und wüssten auch, dass sie selbst dafür verantwortlich sind.

Die Lösung wäre also das, was die Avantgarde der Aktivisten im „Arabischen Frühling“ versucht hat, herbeizuführen?

Das wäre wohl der wichtigste Faktor. Wir haben ja, wie bereits beschrieben, eine Geschichte von ausländischen Mächten, die sich einmischen. Das wäre danach wohl immer noch so. Aber das Gefühl der Hilflosigkeit und Passivität würde verschwinden. Jetzt haben die Menschen das Gefühl, hilflose Objekte zu sein. Wenn sie in ihren eigenen Gesellschaften nicht mehr so machtlos wären, wäre schon mal die Hälfte des Weges geschafft.

Rami George Khoury, Jahrgang 1948, entstammt einer christlich-palästinensischen Familie aus Nazareth. In den USA geboren, ging er zeitweise in Genf zur Schule und begann 1971 seine Karriere als Journalist beim „Daily Star“, der größten libanesischen Tageszeitung. Nach umfangreichen Tätigkeiten – unter anderem als Gastdozent für Internationale Beziehungen in Harvard und Kolumnist internationaler Zeitungen – lehrt er heute Internationale Politik an der American University of Beirut. Khoury hat die jordanische und die amerikanische Staatsbürgerschaft.